Im Laufe eines Lebens, April 2017 #3

Im Laufe eines Lebens, April 2017 #3

Wir haben Ostara gefeiert, irgendwann.
Im Dunkeln liegt die Erinnerung an unser Fest des Lichtes, der Kraft, der Wiedergeburt des Lebens. Weit weg ist diese Nacht, und alle Tage und Nächte dazwischen, düster, kalt und leer.
Dunkel. 
Eine andere Ansicht über den Tod, ein anderes Verständnis vom Sterben, eine andere Auffassung vom Sein und dem Nichts, eine andere Einstellung vom Weg in die andere Welt, habe ich gelesen, ist den Naturreligionen eigen- also auch dem Wiccatum und Reclaiming. 
Die Wiedervereinigung als Ganzes mit der Göttin, eine Rückkehr in ihre Macht, in ihre Welt, in den ewigen, unaufhaltsamen Kreislauf des  Seins- dem wir alle Teil sind, im Leben und im Sterben.  Ein unauslöschlicher und unbedingt nötiger Bestandteil des Lebens ist er, der Tod; der nächste Schritt im Kreis der Zeit ist das Sterben- unausweichlich, unumgänglich, notwenig.
Der Tod, das Sterben als unbedingte Voraussetzung für das Leben, das Leben aufschiebend bedingt durch den Tod. Das eine um des anderen Willen, ohne einander unmöglich. 
Einen Schritt voraus gehen. Heim kehren.
Doch es macht es nicht erträglicher, das Wissen um die Notwendigkeit. Es wird dadurch nicht einfacher, nicht weniger schmerzhaft, nicht weniger furchtbar durch die Verbindung zur Natur, zur großen Göttin. Es tröstet nicht in den Momenten in denen nichts irdisches zu trösten vermag, wenn die Welt in der man lebt- ja, man selbst lebt noch, unfassbar angesichts des erdrückenden und vernichtenden Schmerzes des Verlustes-  wenn die Welt in der man noch zu leben zurück gelassen wurde, zusammenbricht, auseinander fällt, untergeht. Alles bisher Gekannte mit einem Mal aufhört da zu sein. 
„Es ist alles gut. Geh‘ heim“, höre ich mich noch in meinem Kopf, in dieser ersten, allen anderen vorangehenden, dunklen Nacht unter Tränen flüstern. „Geh‘ heim.“ 
Alle Farben sind aus dem mir verbleibenden Teil der Welt verschwunden, wurden mit genommen auf die andere Seite; alle Kraft, seelisch und körperlich, wurde aufgebraucht, alle Energie verzehrt von dem Moment,  in dem es meine allerhöchste, heilige Pflicht gegenüber diesem geliebten Wesen gewesen ist, an seiner statt,  für die letzte Drehung im Rad der Ewigkeit stark zu sein. Als ich stark sein musste- konnte- wollte, weil die Unabwendbarkeit des ewigen Kreises gar nichts anderes zuließ, als stark sein zu müssen-  um nur Sekunden später in aller Verzweiflung die Unbegreiflichkeit des Geschehenen, aller Kraft beraubt, hinauszuschreien in dieses gestaltlose Nichts. 
Doch Stille.  Kein Ton kommt heraus, kein Laut dokumentiert das durchlebte, bezeugt den Start der Reise seines Unsterblichens zur großen Göttin.
Dann wird alles schwarz. Es ist dunkel und leer, kalt und trostlos. Und über allem ist diese Sinnlosigkeit.
Nur der große Himmel ist da, an den ich mich wie selbstverständlich wende, der die Trennungslinie zu sein scheint, zwischen dem gestern-  letzter Woche, vor zwei Wochen, vor einem Monat- Verlorenem, und dem  morgen-  in zwei Wochen, in drei Monaten, nächstes Jahr-  ersehnten Wiederzufindendem. Der große, weite Himmel, der die unverrückbare Verbindungsbrücke zu sein scheint zwischen den beiden Hälften des Rades, der unabwendbar zu beschreitende Übergang und zugleich auch die unübertretbare Grenze zwischen dem Hier und Jetzt und dem Dort und Künftigem.
Nur die stille, große Einsamkeit ist da, in die ich mich ganz selbstverständlich flüchte in meinem Kummer und meinem Leid, meinem Unverständnis. Die gefürchteter Gegner und ersehnte Erlösung ist mit ihrer Stille, ihrer Ruhe, ihrem Sein im Nichts. Deren hallend laut geflüsterte Worte sich in mein Innerstes brennen, deren schreiende Ruhe mich einbettet in einen Schutzwall aus Luft und Leere. 
Der große, weite Himmel, und die laut schreiend schweigende Einsamkeit.
Die nicht zu fassende Weite des Seins, des alles umfassenden, unbarmherzigen Kreislaufes und die nicht zum Schweigen zu bringende, überquellende Leere.
Er ist nach Hause gegangen. 
Seltsam, warum sich gerade diese Worte aufdrängten- die einzigen schienen, die gesprochen werden sollten. 

Die Sonne ist seither, wider all meiner gefühlten Erwartungen, immer wieder neu aufgegangen und bescheint die Trümmer einer Welt, die so wie sie war, niemals wieder sein wird. Mit dem Vollmond habe ich versucht um die Wette zu leuchten und alle Bäume und Sträucher in unserem Garten mit kleinen, in Gläser gesteckte Kerzen behängt und entzündet, um mit ihr zu leuchten- das Dunkle zu verdrängen versucht, das mit einem Schlag alles eingehüllt hat. Ich habe Räucherwerk entzündet, kaum wissend warum, und Unkraut gejätet, aufgeräumt und geschlichtet- um die Welt die aus ihren Fugen geraten ist, wieder in Ordnung zu bringen.  Um alles wieder in Ordnung zu bringen,  die Trümmer wieder an ihren gewohnten Platz zu stemmen, die Spuren des Erdbebens aufräumen- wenn ich nur bewiese, dass ich alles wieder zurecht rücken könne, dann würde vielleicht alles gar nicht wahr sein- ich würde, vielleicht zitternd und ängstlich, aber dennoch letztlich endlich aufwachen aus diesem Alptraum. Die Kräfte dieser und aller anderen Welten erkennen, dass sie einen Fehler gemacht hätten, mir zurück schicken, was mir genommen wurde- aufwachen.

Es gibt kein Aufwachen. 
Ich bin wach. 
Das Licht der Sonne spielt in den Blättern der jüngst erwachten Bäume deren frische, kleinen Blätter im Wind tanzen, ihr Schattenspiel bedeckt den Schreibtisch- schön und verhöhnend zugleich.

Die mir anvertraute Seele ist auf Wanderschaft gegangen, weg von dieser, hin in eine andere, mir unerreichbare Welt- zu all jenen, die ihr bereits voraus gegangen sind.  Und wie noch niemals zuvor, durch die Weite des Himmels und die Tiefe der Einsamkeit in die ich gesehen habe und in die ich gefallen bin, durch den Schmerz der mich zu Boden reißt, und die, durch ein fallendes Blatt oder einen vorbeifliegenden Schmetterling, oder eine am wilden Wein summende Biene hervorgerufene Erinnerung, die mich entgegen der gewaltigen Last aufhebt, stützt, aufrichtet, vermischten sich die Empfindungen des hoffnungslos Verlorensein und des alles umfassenden Begreifens- das in letzter Sekunde beständig sich einem endgültigen Ergreifen entzieht. 
Ganz so, wie das wertvolle kleine Licht, das ich mit aller Kraft zu halten gesucht habe- und doch im nächsten Augenblick habe ziehen lassen müssen.

Ein Teil von Allem sein. In Allem ein Teil sein.
Den Schmerz, den Verlust, die Dunkelheit und die Verzweiflung genauso wie die Freude, die Erinnerung, die Kraft und den Mut als Teil meiner Selbst nicht nur akzeptieren, sondern annehmen, nicht nur als unabwendbar zu erachten, sondern als notwendig zu begreifen – ist es das, was zu erkennen es gilt? 
Die Einheit von dunkler und heller Seite, die sich gegenseitig bedingenden, scheinbar gegensätzlichen unterschiedlich gleichen Seiten des ewigen Rades, Leben und Sterben, Sein und Vergehen. Und allem dazwischen, das uns zu denen werden lässt, die wir sind. Das Unbegreifliche als unbegreiflich erkennen, als großes Ganze, in dessen Schatten und Licht wir in unserer unermesslichen Größe so unbedeutend klein und winzig sind, dass es gar nicht anders kann, als uns unabwendbar zu überwälzen, zu verschlingen, zu übergehen. Unser großes, die ganze bekannte Welt umfassendes Wirken zu überdecken mit der gewaltigen und unbekannten Macht des ewigen Kreislaufes, dem nichts Einhalt zu gebieten vermag, vom Anbeginn der Zeit an. Stets gleich bleibend in seiner stetigen Veränderung. Und was bleibt uns anderes übrig, als mit zu laufen in diesem beständig gleichlaufenden Rad, das Freude und Leid, Geburt und Sterben, Licht und Dunkelheit seit jeher beschert, und bis in alle künftigen Zeiten dem Nichts Alles bringt, und Alles beständig ins Nichts stürzt. 

Ich blicke in den Himmel und sehe die Seele die mir voran gegangen ist, ich betrachte die im Wind schaukelnden Äste der frisch erblühten Bäume und schaue in das reine Licht des mir nicht mehr erreichbaren Wesens, und über das frische grüne Gras streichend fühle ich die Anwesenheit meines entschwundenen Seelenfreundes- und weiß, über allen Schmerz, über alle Tränen und über alle Einsamkeit hinweg, dass er da ist, als Teil von Allem, in Allem ein Teil. 

Gum biodh ràth le do thurus!                                                                        Realef