Hexenreligion

Der Weg der Hagazussa als spirituelle Disziplin
Kleiner Versuch einer religionswissenschaftlichen Einordnung der Hexenreligion

von Donate Pahnke McIntosh (2001)

Seit langem beschäftige ich mich mit der Hexenreligion, und immer wieder werde ich gefragt: Ist das denn nun eigentlich eine „richtige“ Religion oder nicht? Da noch nicht einmal innerhalb der Religionswissenschaft Einigkeit darüber besteht, was eine „richtige“ Religion ist, ist die Frage schwer zu beantworten. Auf jeden Fall ist die Hexenreligion ein „religiöses Phänomen“ und somit legitimes Objekt religionswissenschaftlichen Forschens. Abgesehen davon, dass für viele Hexen das Wort Hexenreligion völlig selbstverständlich ist.

Fragen wir dazu einmal die Encyclopedia of Religion, ein religionswissenschaftliches Standardwerk. Es unterscheidet sechs verschiedene Typen spiritueller Disziplinen (wobei „Disziplin“, abgeleitet von lat. discere = lernen, verstanden wird als ein Weg, auf dem man etwas lernt): die ekstatische Disziplin, die konstruktive Disziplin, die Disziplin des Körpers, die Disziplin des Geistes, die Disziplin des Herzens und die Disziplin dauerhafter persönlicher Beziehungen. Die Encyclopedia gibt folgende Definitionen dieser Typen, hier zusammenfassend dargestellt:

1. Die ekstatische Disziplin ist an die Fähigkeit geknüpft, aus dem eigenen Körper herauszutreten und Erfahrungen mit Wesenheiten und Geistern in der Anderswelt zu machen, wie es z.B. beschrieben wird in der indianischen Visionssuche, dem symbolischen Sterben und Wiederauferstehen der schamanischen Initiation oder dem Zwischenzustand des Nachtodes im Tibetischen Totenbuch.

2. In der konstruktiven Disziplin erbaut der/die Lernende die eigene Persönlichkeit auf der Grundlage eines heiligen Modells, etwa durch das korrekte Befolgen überlieferter heiliger Riten oder die imitierende Nachfolge heiliger Vorbilder wie Jesus, Maria, Buddha oder des Weisen in der konfuzianischen Philosophie.

3. In der Disziplin des Körpers geht es darum, die Tendenz des Körpers, durch sinnenfrohen Genuss und Triebhaftigkeit den Geist von seinen „ätherischeren“ Aufgaben abzuhalten, auszuschalten. In diese Rubrik fallen alle asketischen Traditionen und Mönchswege der Weltreligionen sowie die Wege des klassischen achtfachen Yogapfades und der Vipassana-Meditation, in denen die befreiende Erfahrung des Absoluten durch die angestrebte Überwindung der Leidhaftigkeit und Bedingtheit der menschlichen Körperlichkeit gesehen wird.

4. Die Disziplin des Geistes geht davon aus, dass der Geist, ebenso wie der Körper, von den Notwendigkeiten des spirituellen Wachstums ablenken kann und daher gezügelt werden muss, etwa indem zu viel analytisches Denken, aber auch Tagträume unterbunden werden. Diese Richtung findet sich in einigen der Upanishaden oder im Transintellektualismus eines Teils der christlichen Mystik (z.B. Dionysos Areopagites).

5. Die Disziplin des Herzens lehrt, dass die letzte, universelle Wahrheit in der allumfassenden und alles durchströmenden Liebe liegt. Dieser Weg sieht die Welt in ihrer erhabenen Natur und strebt nach einer vollständigen Öffnung des Herzens, um mit der göttlichen Liebe, die zugleich die Liebe zwischen Menschen möglich macht, zu verschmelzen (Bhakti-Yoga, christliche, jüdische und islamische Liebesmystik).

6. Die Disziplin dauerhafter persönlicher Beziehungen fußt auf der Überzeugung, dass die religiöse Erfüllung am besten durch die Erfüllung fester Maßgaben und Prinzipien gewährleistet ist, welche das Verhältnis zwischen dem Göttlichen und dem Menschen sowie zwischen den Menschen untereinander regeln (z.B. die christlichen 10 Gebote oder die Gesetze des Manu im Hinduismus).

Versucht man nun, den spirituellen Weg der Hexen mit Hilfe dieser Kategorisierungen einzuordnen, so erweist sich dies als schwierig, weil die Hexenreligion in vielerlei Hinsicht quer zu allen Rubriken liegt. Die Rigidität der Disziplin dauerhafter persönlicher Beziehungen und ihrer Gesetzesfrömmigkeit scheiden von vornherein aus, weil sie dem anti-hierarchischen Denken der Hexen diametral entgegengesetzt sind. Ebenfalls entfällt der Modus der konstruktiven Disziplin, die Orientierung an einer heiligen Tradition bzw. die Nachfolge einer heiligen Persönlichkeit, schon aufgrund der Tatsache, dass eine solche Tradition bei den Hexen (noch?) nicht existiert und dass die Neigung, eine Führungspersönlichkeit nachzufolgen, äußerst gering ist.

Auch der Disziplin des Geistes wird man die Hexenreligion nur sehr begrenzt zuordnen können, denn obwohl viele Hexen einer der klassischen Meditationsschulen folgen, die danach trachten, den Geist von allen überflüssigen Anhaftungen zu befreien, gibt es andererseits wohl nur wenige spirituelle Wege, die so viel Gewicht auf die Beschäftigung mit inneren Bildern, Visualisationen und Tagträume legen, die zum Teil absichtlich herbeigeführt werden.

Ähnliches gilt für die Disziplin des Körpers. Fast alle Hexen haben eine individuelle Praxis regelmäßiger Körperübungen, z.B. aus dem Bereich von Yoga, Chi Gong, Tai Chi oder bestimmter Tanzrichtungen, jedoch dient diese Praxis gerade nicht dem Bestreben, die Triebe und Bedürfnisse des Körpers „unschädlich“ zu machen für eine überwiegend geistig verstandene Entwicklung, sondern sie geschieht in wertschätzender Akzeptanz des Körpers als des ersten und wichtigsten Werkzeugs der Hexe in der Welt zu sein, und wird als nützliche Schulung des Körperwissens verstanden. Ausgehend von der Philosophie der Immanenz der Göttin in allen Wesen, genießt die Materie und damit die Leiberfahrung in der Hexenreligion einen hohen Respekt, der in nichts hinter der Achtung für die geistige und Verstandeswelt zurücksteht.

Dies betrifft auch die Disziplin der Ekstase. Da die Zaunreiterin keine der Körperfunktionen und keines der sinnlichen menschlichen Grundbedürfnisse geringschätzt, besteht auch, von besonders begründeten Situationen abgesehen, keine Veranlassung, den Körper für Besuche in der Anderswelt zu verlassen, wie es die Encyclopedia als typisches Element der Ekstase beschreibt. Die Hexenreligion als eine der wohl ekstatischsten lebenden Religionsformen der westlichen Welt versteht im Gegenteil die Ekstase gerade als ein vollkommen zentriertes Im-Körper-Sein im Sinne einer möglichst vollständigen Einbeziehung des Körperwissens und seiner Weisheit in das spirituelle Geschehen. So legen Anleitungen zur Induktion von Ekstase in der Hexenreligion den größten Wert auf eine intensive Erdung und Zentrierung, während „abhebende“ bewusstseinsmanipulierende Techniken wie z.B. Hyperventilation oder Drogengebrauch verpönt sind. Bei den Hexen geschieht das Auftreten von Ekstase zumeist in durch Trance hervorgerufene spirituelle Tiefenerfahrungen oder bei stark rhythmisierten Tänzen. Einige Hexen schätzen außerdem den Weg des Tantra mit seinen erotisch-sexuellen Ekstasetechniken. Bleibt als letztes die Disziplin des Herzens, die von allen sechs Kategorien noch am ehesten zuzutreffen scheint, entspricht sie doch dem Gesetz der Göttin, „Liebe zu allen Wesen“ zu verkörpern. Hier würden sich vermutlich die meisten Hexen wiederfinden können, besonders diejenigen, die einem „Weg des Herzens“ und einer Haltung des Mitgefühls folgen. Voraussetzung wäre allerdings, dass entsprechend dem Grundsatz „Alle Akte der Liebe und Freude sind meine Rituale“ mit Liebe nicht nur agape, sondern gleichermaßen auch eros gemeint ist.

Die Schwierigkeit, die Hexenreligion systematisch einzuordnen, erklärt sich nicht nur aus ihrer schweren Fassbarkeit mangels festumrissener Orthodoxie und Orthopraxie, die sie weniger leicht greifbar macht als dogmatischere Traditionen, sondern auch aus den wissenschaftlichen Kategorien selbst, die zwar universell gedacht sind, jedoch auf der Basis eher konservativ-klassischer und zudem patriarchaler Traditionsmuster erstellt wurden und somit nur schwer in der Lage sind, eine göttinbezogene, egalitäre spirituelle Neubildung zu erklären.

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